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Postkolonialismus ist in Mode – und umstritten. Seit Edward Saids Orientalism (1978) bestimmen seinen Diskurs vor allem Beiträge in englischer Sprache von Elite-Hochschulen in den USA. Dabei wird in der Regel vergessen, daß schon lange vorher und anderswo, vor allem in Lateinamerika, dessen Länder seit den 1820er Jahren die Unabhängigkeit erlangt hatten, entsprechende Fragen diskutiert wurden. Wer sind wir? Und wie verhalten wir uns zum kolonialen Erbe? Wie können wir unsere Kultur entkolonisieren und eine unabhängige Identität ausbilden? Welche psychischen Folgen hat die Kolonisierung? Und wie können wir sie überwinden? In welchen Formen überdauern koloniale Formen der Hegemonie und des Denkens den historischen Kolonialismus?
Der Argentinier Domingo Faustino Sarmiento, zum Beispiel, betrachtete in Facundo (1845) die Gespaltenheit seiner selbständig gewordenen Nation zwischen der Ausrichtung auf europäische „Zivilisation“ und der Faszination gauchesker „Barbarei“. Der Mexikaner Octavio Paz analysierte in El laberinto de la soledad (1950) die kulturpsychologischen Nachwirkungen des Kolonialismus als Dialektik von Selbstsuche und Selbstverleugnung. Der Kubaner Alejo Carpentier erklärte die „Wunderbare Wirklichkeit“ (1949) zum poetischen Prinzip einer außereuropäischen Schreibweise. Der Uruguayer Eduardo Galeano beschrieb in Die offenen Adern Lateinamerikas (1971) die koloniale und neokoloniale Ausbeutung in ihrer Kontinuität. Als erste postkoloniale Theorie der deutschen Literatur begründete Alexander von Humboldt den Zusammenhang von Kolonialismus und Kultur, indem er in Geschichte der physischen Weltanschauung (1847) die Geschichte der Wissenschaften mit jener der Eroberungen engführte. Sogar der afroamerikanische Intellektuelle W. E. B. Du Bois ist heute neu zu entdecken, der in The Souls of Black Folk (1903) das Konzept des „doppelten Bewußtseins“ entwickelte und in seinen Schriften zum Antisemitismus verblüfft feststellte, daß die Opfer eines imperialen Rassismus auch weiß sein können.
Wir diskutieren historische Primärtexte und ziehen einschlägige Fors
Literatur:
Domingo Faustino Sarmiento, Facundo o Civilización y Barbarie en las pampas argentinas (1845; dt. Barbarei und Zivilisation. Das Leben des Facundo Quiroga).
Alejo Carpentier, El reino de este mundo (1949; dt. Das Reich von dieser Welt).
Octavio Paz, El laberinto de la soledad (1950, dt. Das Labyrinth der Einsamkeit).
Eduardo Galeano, Las venas abiertas de América Latina (1971; Die offenen Adern Lateinamerikas).
Alexander von Humboldt, Geschichte der physischen Weltanschauung (1847; Kosmos, Band 2).
W. E. B. Du Bois, The Souls of Black Folk (1903; dt. Die Seelen der Schwarzen).
Frantz Fanon, Peau noire, masques blancs (1952; dt. Schwarze Haut, weiße Masken).
Forschung:
Tzvetan Todorov, La conquête de l’Amérique. La question de l’autre (1982; Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen).
Benedict Anderson, Imagined Communities (1983; dt. Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts).
(Die Texte können im englischen, spanischen und französischen Original oder in deutscher Übersetzung gelesen werden.)
Spanischkenntnisse werden nicht vorausgesetzt. |