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Textile Artefakte spielten in der frühen Formierung des Fachs Kunstgeschichte eine bemerkenswerte Rolle – etwa bei Gottfried Semper (Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, 1860), Alois Riegl (Der orientalische Teppich, 1895) oder Josef Strzygowski (Orient oder Rom, 1901). Im 20. Jahrhundert jedoch rückte das textile Medium zunehmend an den Rand des disziplinären Kanons. Diese Marginalisierung wird meist auf die von Vasari geprägte, hierarchisierende Trennung zwischen angewandter – und damit vermeintlich „niederrangiger“ – und bildender Kunst zurückgeführt.
Wenig beachtet bleibt hingegen, dass textile Praktiken eng mit weiblich konnotierter Handarbeit, Häuslichkeit und Alltag assoziiert sind – und dass ihre wissenschaftliche Erschliessung im 20. Jahrhundert wesentlich von Frauen getragen wurde, oft jenseits universitärer Strukturen: als Kuratorinnen, Konservatorinnen oder Restauratorinnen in Museen. Neben der Trennung von angewandter und bildender Kunst ist daher auch eine geschlechterspezifische Marginalisierung für die Geschichte der textilen Künste innerhalb der Kunstgeschichte zu beobachten. Diese zeigt sich nicht nur in der eurozentrischen Kunstgeschichtsschreibung, sondern ebenso in der Historiographie der Geschichte der islamischen Kunst, in der textile Artefakte kaum als eigenständige Forschungsobjekte wahrgenommen wurden.
Die Vorlesung setzt an dieser doppelten Unsichtbarkeit – des Mediums wie seiner Forscherinnen – an und fragt nach dem Beitrag von Textilhistorikerinnen zur Geschichte der textilen Künste im 20. Jahrhundert. Der Titel orientiert sich am von Lee Chichester und Brigitte Sölch herausgegebenen Sammelband «Kunsthistorikerinnen 1910–1980: Theorien, Methoden, Kritiken» (2021), in dem – selbst unter dezidiertem Fokus auf Kunsthistorikerinnen – ein Beitrag einer Textilhistorikerin fehlt. Stattdessen findet sich ein Text von Anni Albers: einer Textilkünstlerin.
Im Zentrum der Vorlesung stehen sammlungsbezogene, methodisch reflektierte Texte von Textilhistorikerinnen aus dem deutsch-, französisch- und englischsprachigen Raum, in denen textile Objekte als Träger historischen und materiellen Wissens erschlossen werden. Anhand exemplarischer Fallstudien – etwa zu Leinenstickereien, buyidischen Seidengeweben, Tirāz-Fragmenten und Tapisserien – werden Perspektiven, Diskurse und Netzwerke dieser Forscherinnen sichtbar gemacht, um eine Forschungsgeschichte der textilen Künste im 20. Jahrhundert zu skizzieren, die sie in den Mittelpunkt rückt.
Die Vorlesung Sie richtet sich nicht nur an Studierende des Masterprogramms Geschichte der textilen Künste, sondern ebenso an Studienanfänger:innen der Kunstgeschichte, die sich vielleicht fragen, was die Geschichte der textilen Künste überhaupt ausmacht. Studierende anderer Fachrichtungen wie den Gender Studies oder der Geschichte sind ebenfalls willkommen.
Ausgewählte Literatur
• Cordula Bischof, Arbeitsfeld Kunstgewerbe – typisch Kunsthistorikerin? Bemerkungen zur Berufssituation der Kunsthistorikerin in Deutschland von 1910 bis heute, in: dies. und Christina Threuter (Hg.), Um-Ordnung. Angewandte Künste und Geschlecht in der Moderne, Marbach 1999.
• K. Lee Chichester und Brigitte Sölch (Hrsg.), Kunsthistorikerinnen 1910-1980: Theorien, Methoden, Kritiken, Berlin 2021.
• Mechthild Flury-Lemberg, Textilkonservierung im Dienste der Forschung, Bern 1988.
• Leonie von Wilckens, Die textilen Künste: von der Spätantike bis um 1500, München 1991. |